Leistung ist das grosse, polarisierende Thema in Beruf und Schule. Die spiegelt sich in unserer „Entweder-oder“-Welt wider: Für viele ist das Leistungsprinzip besonders positiv konnotiert, während es für andere stark negative Assoziationen weckt. Endlich gelang es mir, beides zu integrieren und ein Bild zu entwickeln, welches mir diese Polarisierung erklärt und für mich selbst nicht mehr notwendig macht.
Psychologische Grundbedürfnisse
Der Mensch hat Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf, Sex usw. Dies sind unsere physischen Bedürfnisse, die erfüllt sein sollen, damit es uns gut geht. Auch die Psyche des Menschen hat Bedürfnisse. Die aktuell etablierteste Theorie für die psychologischen Grundbedürfnisse ist die Self-Determination Theory von Deci und Ryan. Diese sagt aus, dass Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit die drei Grundbedürfnisse des Menschen sind. Dies ist einerseits sehr einleuchtend, andererseits hatte ich von Beginn an den Begriff Kompetenz einzuordnen. Im Folgenden beschreibe ich das für mich sehr schlüssige Bild einer Zuordnung.
Autonomie und Verbundenheit
Diese beiden Bedürfnisse sind sehr einleuchtend und können evolutionstheoretisch gut eingeordnet werden. Autonomie bedeutet überleben. „Ich kann für mich sorgen“ ist die Kernaussage. Verbundenheit benötigen wir, um zu überleben: „Ich möchte dazugehören“. Nur in der Gemeinschaft kann der Homo sapiens sich in der Nahrungskette behaupten. Auch in der Psychotherapie haben diese Bedürfnisse einen grossen Stellenwert: manche Menschen haben einen geringen Selbstwert, wenn ihr Bedürfnis nach Autonomie nicht erfüllt ist. Manche haben eine „Bindungsstörung“, das Bedürfnis nach Verbundenheit ist nicht erfüllt. Eine Diagnose des Kompetenzmangels ist mir bisher nicht begegnet.
Das Grundbedürfnis Kompetenz
Als Synonym für Kompetenz kann Leistung gesehen werden. Wenn wir leisten, sind wir kompetent und fühlen uns gut. Deshalb habe ich Kompetenz bisher nicht eigenständig wahrgenommen, sondern als Teil der Autonomie. Kompetenz und Leistung sind genauer betrachtet nicht von unseren Mitmenschen zu lösen. Kompetenz und Leistung benötigen einen Referenzpunkt. Ohne Vergleich kann ich keine Wertung vornehmen. Was ich tue, ist dann normal. Deshalb hat Leistung und Kompetenz nicht nur mit Autonomie, sondern mit Verbundenheit zu tun.
Kompetenz als Verbindung von Autonomie und Verbindung
Kompetenz kann so argumentiert als Verbindung von Autonomie und Verbundenheit bezogen werden. Ich leiste viel (für die Gesellschaft) und fühle mich dadurch verbunden, als wichtig, als relevant.

Die Nebenwirkungen von Kompetenz und Leistung
Wenn wir das Bedürfnis von Kompetenz spüren, so geht das nur im direkten Vergleich mit anderen. Wir können Leistung und Kompetenz nur auf Kosten unserer Mitmenschen wahrnehmen. Bin ich kompetent, muss jemand anders weniger kompetent sein. Leiste ich viel, muss jemand anders weniger leisten. Und dies führt zum gesellschaftlichen Dilemma der Leistungsorientierung: Leistende, kompetente Menschen fühlen sich autonom und verbunden. Dieses Gefühl kann aber nur auf Kosten anderer Menschen entstehen, die sich zwangsläufig weniger leistungsfähig und kompetent fühlen. Ein Indiz dafür ist die steigende Zahl von Diagnosen, der Mangel an therapeutischen Angeboten und der Coaching-Boom.
Was können wir tun?
Erfüllen wir unser Bedürfnis nach Autonomie durch Leistung und Kompetenz, müssen wir stetig Angst haben, dass jemand anders mehr leistet. Neid, Eifersucht und das Gefühl nicht zu genügen sind Symptome dieser Problematik. Glücklicherweise habe ich für mich eine Auflösung dieses Dilemmas gefunden: die bewusste Unterscheidung zwischen Kompetenz und Autonomie.
Leistung ist der Ausdruck von Tätigkeiten für die Gesellschaft, die wir tun müssen. Lustvoll nennen wir Tätigkeiten, die uns gut tun, die wir tun wollen.
Mache ich Sport, so war das bisher sehr leistungsorientiert. Nicht im Sinne des Leistungssports, doch stetig mit dem Ziel der Verbesserung. Dies darf auch weiterhin so sein. Beim Squash möchte ich weiterhin gewinnen, besser sein. Beim Klettern hat mich der Leistungsanspruch stetig behindert. Deshalb ist Klettern nun mein Lustsport und Squash mein Leistungssport. Auch in anderen Bereichen passt diese Unterscheidung: Leistungslernen oder lustvolles Lernen, Leistungshobby oder lustvolles Hobby. Unsere Sprache kennt diese Unterscheidung bereits: Zwanglos, Lustwandeln und lustvoll stehen für die Lust (das Wollen) Leistungsanspruch, Expertentum und Kompetenz für die Leistung (das Müssen). Ich habe bemerkt, dass mich das „Entweder-oder“ in die Leistungsfalle führt. „Sowohl-als-auch“ ist der Weg aus der Falle hinaus.
Lustschreiben ganz für mich
Indem ich Kompetenz und Autonomie bei all meinen Aktivitäten differenziere – wie beim Unterschied zwischen meinem Lust- und Leistungssport – kann ich der Falle des „Entweder-oder“ entgehen und mich langsam dem „Sowohl-als-auch“ nähern. Für mich ist das ein neuer Weg, zu einem erfüllteren und ausgewogeneren Leben.
Und so war dies mein erstes Ergebnis des Lustschreibens, ohne Leistungsanspruch, ganz für mich. Wenn es jemand trotzdem toll findet, darf ich mich dennoch freuen, wenn nicht, darf es mir völlig egal sein 😀.
Für das Ideal gibt es bereits einen Namen: die verbundene Autonomie!